Viel hatten wir uns vorgenommen. Das straffe Programm war vollgepackt mit theoretischen Inputs, praxisorientierten Übungen und Austauschrunden. Kurz waren wir unsicher, ob die teilnehmenden Lehrkräfte nach einem vollen Schultag noch genügend Energie mitbrächten – so kurz vor den Sommerferien und dann auch noch digital.
Die Skepsis war völlig unbegründet. Rund 20 Lehrkräfte sowie Sozial- und Sonderpädagog*innen von fünf Schulen in Baden-Württemberg nahmen verbindlich an allen drei Modulen teil und brachten sich engagiert und offen in den interaktiven Phasen ein.
Vielfältige Motive und große Offenheit
Die Beweggründe für die Teilnahme waren unterschiedlich: Manche Personen erhofften sich durch das Weiterbildungsformat eine höhere Sensibilität im Umgang mit einer diversen Schüler*innenschaft. Andere waren besonders an Hintergrundwissen zu theoretischen Modellen und Ansätzen der Kulturwissenschaft interessiert und wiederum andere erhofften sich konkrete Handlungsoptionen für den Arbeitsalltag in Schule. Auch Mitglieder der Schulleitungen nahmen teil, mit dem strategischen Blick für das bevorstehende Schuljahr: Interkulturelle Kompetenz soll im Kollegium so breit verankert werden, dass alle Ebenen der gemeinsamen Arbeit — Unterricht, spezielle (Sprach-)Förderprogramme, die offene Ganztagsgestaltung, Elternarbeit, Berufsorientierung — davon profitieren.
Der Projektkontext
Gemein hatten alle Teilnehmer*innen, dass ihre Schulen seit Beginn des Jahres am EU-Förderprojekt „Schule als Ort der Vielfalt“ teilnehmen. Im Rahmen dieses Projektes werden sie darin unterstützt, ihre Elternarbeit bzw. ihre Berufsorientierung kultursensibel zu gestalten. Die fünf Schulen aus Baden-Württemberg wurden im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens in das Kooperationsprojekt von IMAP und der Bildungsorganisation Teach First Deutschland aufgenommen. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, einen zweijährigen Schulentwicklungsprozess in einem der beiden Schwerpunkte anzustoßen. Die Projekte werden vor Ort von Teach First Deutschland Fellows geleitet, durch IMAP Berater*innen im Prozess begleitet und durch unterschiedliche Lehrkräftegruppen mit konkreten Maßnahmen umgesetzt. Nach einer Diagnosephase zu Beginn dieses Jahres hat nun die erste Intervention für alle beteiligten und interessierten Lehrkräfte stattgefunden: die online durchgeführte Weiterbildung zum Thema „Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz in Schule“.
Drei knackige Online-Module für mehr Ambiguitätstoleranz
Was ist Kultur eigentlich? Mithilfe von Alltagsbeispielen, Definitionen und Modellen aus der Kulturwissenschaft erschlossen die Teilnehmenden im ersten Modul unterschiedliche Blickwinkel auf Kultur. Ziel war es, das Bewusstsein für unbewusste Kulturaspekte bei den Teilnehmer*innen zu stärken und eine Grundlage für die kommenden Einheiten zu legen. Darauf aufbauend führten wir das Kulturverständnis ein, das uns bei IMAP eint: Für uns ist Kultur der Prozess, in welchem Menschen untereinander aushandeln, was zwischen ihnen als normal gelten soll. Dieser Aushandlungsprozess kann bilateral zwischen Einzelpersonen geschehen, in Familien und Teamkonstellationen, innerhalb von Organisationen und Unternehmen aber auch auf geographischen Ebenen unterschiedlicher Größen, wie Bundesländer oder Nationalstaaten. Und je reflektierter, absichtsvoller und klarer sich alle Parteien an diesem Prozess beteiligten können, desto substanzieller ist in der Regel auch das Ergebnis — oder das Zusammenleben.
Im zweiten und dritten Modul reflektierten die Teilnehmer*innen mithilfe des IMAP Kulturmodells erlebte Situationen des Alltagsgeschehens gemeinsam und erarbeiteten anschlussfähige Handlungsoptionen. Das Kulturmodell ermöglicht es, Kulturmerkmale systematisiert aufzufächern und miteinander in Verbindung zu bringen. Die Teilnehmer*innen beschäftigten sich intensiv mit Kulturmerkmalen, welche besonders im Kontext Schule Interaktionen prägen und beleuchteten gemeinsam Handlungsoptionen: Wann benötigt eine Schulklasse Struktur und Orientierung? Wann ist es Zeit, Raum für impulsorientiertes Handeln zu geben? Wann benötigt die Elternarbeit mehr Beziehungsorientierung? Wann profitiert sie von Sachorientierung? Wie funktionieren heterarchische Subkulturen innerhalb der Schule oder dem Kollegium, wenn der Rest des Bildungssystems stark durchhierarchisiert ist? Wie können Lehrkräfte Schüler*innen aus individualistisch geprägten Landes- oder Familienkulturen gezielter begegnen? Wie könnten sie ihr Verhalten anpassen, wenn das Gegenüber eher kollektivistische Strukturen und Werte kennt?
Die drei anderthalbstündigen Online-Weiterbildungsmodule waren also nicht darauf ausgerichtet, einen eindeutigen Handlungskatalog mit „Dos and Don’ts“ für bestimmte Landeskulturen zu erstellen. Solch ein Ansatz würde Gefahr laufen in die Kulturalisierungsfalle zu tappen und Menschen in starre Schubladen stecken, die ihrer Komplexität nicht gerecht werden können. Ganz gegenteilig stellten die Module der Weiterbildung in den Vordergrund, dass interkulturelle Sensibilität bedeutet, für Mehrdeutigkeit in sozialen Situationen offen zu sein und Menschen initial positive Beweggründe zu unterstellen, wenn das Verhalten nicht unmittelbar dem eigenen Paradigma entspricht.
Vielfalt als Chance in Schule
Jede Schule in Deutschland ist Ort der Vielfalt: Unterschiedliche Kinder und Jugendliche lernen und wachsen gemeinsam über einen mitunter sehr langen Zeitraum. Den Rahmen stecken Lehrer*innen und Personen anderer Berufsgruppen, welche ebenfalls unterschiedliche Identitäten, Werte, Prägungen und Weltanschauungen mitbringen. Die Schulen dieses Förderprojektes sind sich in diesem Punkt einig: Vielfalt kann bereichernd sein, wenn alle Beteiligten Räume für Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten gestalten. Um es mit den Worten einer Schulleitung auszudrücken, welche an unserer Online-Weiterbildung teilgenommen hat: „An unserer Schule bedeutet Vielfalt eine riesige Chance und Bereicherung, wie im Rest der Gesellschaft auch. Aber sie fordert uns als Menschen auch immer wieder heraus, die Welt nicht nur durch die eigene Brille zu betrachten und unsere Weltsicht für die einzig richtige zu halten. Vielfalt ruft uns zum Lernen und zur Weiterentwicklung an. Danke für das wunderbare Webinar.“
Den Dank geben wir gerne zurück – unsere Online-Weiterbildung hat enorm von der regen Beteiligung aller Teilnehmer*innen profitiert. Wir freuen uns, dieses oder ein ähnliches Format im weiteren Prozess im neuen Schuljahr anbieten und miteinander erleben zu dürfen—damit Vielfalt immer mehr als Chance und Bereicherung jeder Schule erfahren wird.