Change and Culture ist bei IMAP nicht erst seit März Programm. Aktuell sind wir mit unserem Namen aber genau am Puls der Zeit. Die Pandemie stellt unseren Alltag auf den Kopf. Sie zwingt uns zum Umdenken, lässt uns Neues wagen, beschleunigt geplante Veränderungen. Jede und Jeder einzelne von uns spürt das, manche eher schmerzlich, andere voller Spannung und Hoffnung. Und wir sprechen darüber. In Talkshows, Interviews, in Plenarsälen, Klassenräumen und im Wohnzimmer.
Was die meisten von uns ebenso hautnah erleben, aber ungleich schwerer in Worte fassen können, sind die damit einhergehenden kulturellen Veränderungen. Ja, wir befinden uns mitten in einem unvergleichlichen, rasanten Kulturwandel. Kultur verhält sich nicht wie Gesetze, die situationsabhängig angepasst werden können. Kultur kann nicht beschlossen, festgelegt, abgestimmt oder verboten werden. Kultur ist einfach. Dabei ist sie ständig in Veränderung und letztlich Produkt dessen, was wir Menschen untereinander als „normal“ aushandeln.
Stellen Sie sich vor, es wäre nochmal 2019. Die Nachrichten sind voll von Brexit, Fridays for Future und Trumps Eskapaden. Der Absturz mehrerer Boeing Max 737 Maschinen ist das Eheste, was den Durchschnittsdeutschen daran erinnert, dass auch er ein sterbliches Wesen ist und nicht vor allem Übel gefeit. Aus der Ferne vergießen wir eine Träne für die, die im Mittelmeer ertrinken. Eine für den brennenden Regenwald. Erinnern Sie sich an das, was Sie bewegt hat? Welche Sorgen haben Sie beschäftigt? Auf mich persönlich wirkt das alles fern. Alle dieser Themen ist noch relevant. Aber auf einmal ist mir sehr präsent, wie weit weg das alles ist. Es ist Ende März und ich schreibe Spiegel-Schlagzeilen in mein Tagebuch. Corona überlagert alles. Es gibt keine Nachricht, in der die Pandemie nicht erwähnt wird. Premier Johnson wurde positiv getestet. Da fragt keiner nach Brexit. „Bitte kommt und helft uns jetzt in New York“ – das war am 30. März, an dem in New York zum ersten Mal seit dem 11. September 2001 mehr als 200 Menschen an einem Tag gestorben sind. Insgesamt wurden in den USA bis dahin 2500 Corona-Tote gezählt. Mittlerweile sind es mehr als 40 Mal so viele - über 100 000.
Heute sind diese Zahlen wie in 2019 die Zahlen der im Mittelmeer Ertrunkenen. Die Themen von 2019 sind alle wieder da. Fern wirken sie aber weiterhin. Stattdessen ist mir mein Alltag sehr präsent. Heiko Maas freut sich über den ausgestreckten Ellenbogen seines israelischen Amtskollegen wie ein kleines Kind und dennoch zuckt beim Zeigen des Beweisvideos in der Tagesschau niemand auch nur mit den Mundwinkeln. Habe ich gestern erst selbst erlebt, diese Situation. Kennt doch jeder. Ist schon normal. Ist schon Kultur? Auf einmal kann ich es moralisch nicht mehr vertreten, im Juni meinen 30. Geburtstag nachzufeiern. Noch merkwürdiger: die Feier abzusagen macht mich überhaupt nicht traurig. Es fühlt sich eh falsch an. Den Tag bei meinen Eltern zu verbringen und hauptsächlich nichts zu tun fühlt sich richtig an. Das neue Normal? Auf einmal stelle ich mir viele neue Fragen. Warum ich im Februar noch mein Auto verkaufen wollte? Warum ich eigentlich in 100% Vollzeit arbeite? Welche Hummelarten auf meinem Balkon vorkommen? Warum wir Menschen uns vor Corona freiwillig allein in unsere Wohnungen eingesperrt haben – stundenlang, tagelang? Ich stelle fest, dass ich vor Corona viele FOMO-Momente* erlebt habe, die ich nicht misse. Ich stelle fest, dass ich in vielen Bereichen gar nicht mehr genau weiß, was mir wichtig ist. Ich frage mich, ob ich oft nur mitgelaufen bin. Was wird in Zukunft mein Normal? Nach welchen Werten will ich weiterleben? Ich stelle fest – das kann ich jetzt selbst alles mitbestimmen. Es verändert sich gerade. Der Kulturwandel ist live.
Trotz meiner Festanstellung und guten Ausbildung bin ich auf einmal froh, dass mein Partner im öffentlichen Dienst arbeitet. Ich fühle mich unglaublich privilegiert. Ich bemerke starken Zuwachs in meiner Fraktion der Frischluftfanatiker. Meine erste Ensemble-Gesangsprobe nach wochenlanger Kontaktsperre fühlt sich trotz heruntergelassener Plastikvisiere intim an wie ein Kuss. Ich fühle mich Reich. Lebendig. Ich bin dankbar. Vergrößert sich da gerade mein Abstand zur Mitte der Gesellschaft? Eigentlich keine Frage. Corona verstärkt soziale Ungleichheiten. Ich gehöre zu den relativen Gewinnern. Also ein klares Ja. Diese Erkenntnis lastet auf mir. Ich fühle große Verantwortung. Der Sinn, nach dem ich -wie so viele Menschen der Generation Y- in meiner Arbeit und meinem Leben verzweifelt suche, ist eben doch viel mehr als nur meine Karotte. Es bleibt die Hoffnung, dass viele Andere sich jetzt auch auf die Suche begeben. Und das daraus ein neues, ja vielleicht sogar besseres, Miteinander entsteht. Im Herzen spüre ich: ich bin nicht allein.
*Fear-Of-Missing-Out-Momente = Momente der Angst, etwas zu verpassen