Wie stabil sind wir, wenn wir in Krisen und stressige Situationen geraten? Diese Frage stellt sich vor allem in der aktuellen Corona-Krise, die geprägt ist von Traumata – wie dem Tod eines nahestehenden Menschen, Unsicherheit hinsichtlich der eigenen finanziellen Situation oder Gefühlen der Einsamkeit und Isolation. Personen, die in diesen Situationen in der Lage sind, auf ihre Ressourcen zurückzugreifen, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu aktivieren, zu nutzen und so die Krise zu überstehen, werden als besonders resilient bezeichnet. Unter dem Begriff der Resilienz – abgeleitet von der lateinischen Vokabel „resilire“, zu Deutsch, „zurückspringen, abprallen“ – verstehen Psycholog*innen also unser seelisches Immunsystem, einen Anpassungsprozess angesichts widriger Situationen und Belastungen. Darüber hinaus begreifen resiliente Menschen entsprechende Situationen nicht nur als Krise, sondern als eine Situation, in der sie sich weiterentwickeln und sogar persönlich wachsen können.
Seine Ursprünge hat das Konzept in der Traumaforschung. Dabei waren Kinder ein Schwerpunkt der Resilienzforschung. Hier haben sich Wissenschaftler*innen insbesondere für diejenigen Kinder interessiert, die sich trotz widriger Lebensumstände (z.B. Kinder, die in Armut aufgewachsen sind oder gewalttätige Eltern hatten) zu erfolgreichen, gesunden jungen Erwachsenen entwickelt haben. Auf der anderen Seite gibt es weniger resiliente Kinder, die bei gleichen Risikofaktoren ein höheres Risiko für seelische und körperliche Auffälligkeiten aufweisen. In der frühen Kindheit wird somit eine Grundlage für unsere spätere psychische Widerstandskraft gelegt. Dennoch können auch Erwachsene proaktiv ihre Resilienz trainieren.
Die Resilienzforschung findet sich in den Strömungen der Positiven Psychologie wieder, die einen stärkenorientierten Ansatz verfolgt und der Frage nachgeht, was uns Menschen psychisch stark macht. Dementsprechend verschiebt die Resilienzforschung den Fokus von Defiziten auf Stärken. Auf die aktuelle Krise bezogen bedeutet das, sich nicht auf die eigene Hilflosigkeit in der Situation zu konzentrieren, sondern innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen optimistisch nach veränderbaren sowie kontrollierbaren Stellhebel Ausschau zu halten. Resilient zu sein bedeutet somit einen optimistischen Blick auf die Zukunft und Aspekte des Lebens zu bewahren, die wir selbst kontrollieren können und daran zu wachsen.
Die American Psychological Association (APA) hat einen Zehn-Punkte-Plan als Road to Resilience (Weg zur Resilienz) online gestellt (APA, 2012)[1]. Wir haben diesen auf die aktuelle Krise angewendet:
- Halten Sie soziale Kontakte virtuell aufrecht!
Gute Beziehungen zur engeren Familie, zu Freund*innen, Arbeitskolleg*innen etc. sind wichtig. Dass sozialer Austausch und Zugehörigkeit Grundbedürfnisse des Menschen sind und wir daraus Energie schöpfen, wird uns in Zeiten von Social Distancing umso schmerzhafter vor Augen geführt. Vor diesem Hintergrund stellen die Aufrechterhaltung und das Pflegen sozialer Beziehungen uns vor neue Herausforderungen: Wie wollen wir enge und tröstende Beziehungen aufrechterhalten, wenn wir uns nicht persönlich begegnen dürfen? Bedeutet in der aktuellen Zeit doch, sich um jemanden zu sorgen, sich von ihm/ihr körperlich zu distanzieren?
Der technologische Fortschritt mit seinen neuen Kommunikationsmedien kann hier Abhilfe schaffen und Gefühle der Verbundenheit herstellen: Machen Sie Familie und Freund*innen eine Freude und erkundigen Sie sich über Telefon oder WhatsApp danach, wie es Ihnen geht. Verlegen Sie regelmäßige Treffen im Rahmen von Aktionsgruppen, Religionsgemeinschaften oder politischen Vereinen auf ein Online-Medium wie Skype oder Zoom. Diese müssen auch in Corona-Zeiten nicht ausfallen, können Sie stärken und Ihnen Sinn geben. Außerdem freuen Ihre Arbeitskolleg*innen sich sicherlich über einen handgeschriebenen Brief per Post!
Bieten Sie älteren Menschen bei Einkäufen Ihre Unterstützung an – Sie werden sicherlich mit einem Lächeln belohnt. Akzeptieren Sie auch andersherum Hilfe und Unterstützung von Leuten, denen Sie wichtig sind; Studien aus der Positiven Psychologie, die sich mit Stärken und Ressourcen von Menschen beschäftigt und darauf, was gesund macht, zeigen, dass nicht die Menschen von Hilfestellungen profitieren, denen geholfen wird, sondern der Akt der Hilfestellung selbst positive Gefühle in den Hilfestellenden sowie Verbundenheit auslöst (Otake, Shimai, Tanaka-Matsumi, Otsui & Fredrickson, 2006)[2] – Priorisieren Sie die Beziehungspflege vor anderen Aktivitäten: In dieser Krise kann es helfen zu wissen, dass Sie nicht allein sind.
- Sehen Sie die Krise als lösbares Problem!
Auch wenn Sie nichts daran ändern können, dass die Infektionszahlen um sie herum weiter steigen und ihr alltägliches Leben massive Restriktionen erfährt, können Sie doch beeinflussen, wie Sie diese Krise interpretieren und darauf reagieren. Gehen Sie gedanklich in die Zukunft zu dem Zeitpunkt, an dem die Krise überwunden ist und es Ihnen besser gehen wird. Entwickeln Sie ein mentales Bild dieses Zustandes: Was fühlen Sie? Was tun Sie? Was hat sich zum Positiven verändert?
- Akzeptieren Sie die Veränderung!
Veränderungen – wenn auch unangenehm und traumatisch – gehören zum Leben dazu und sind oftmals sogar ein wichtiger Treiber für Fortschritt. In einer widrigen Lebenslage müssen manche Ziele zwangsläufig hintenangestellt und andere priorisiert werden. Machen Sie sich bewusst, was die Veränderung Gutes für Sie mitbringt. Akzeptieren Sie die Umstände, die sich nicht ändern lassen, und konzentrieren Sie sich auf das, was Sie ändern können. Das berühmte Sprichwort der Anonymen Alkoholiker bringt es auf den Punkt: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
- Setzen Sie sich realistische Ziele!
Versuchen Sie, Ziele zu erreichen. Fragen Sie sich vorher, ob das Ziel, welches Sie sich gesetzt haben, realistisch ist, anstatt von Dingen zu träumen, die unerreichbar sind. Nehmen Sie sich jeden Tag etwas vor. Tun Sie regelmäßig etwas – selbst, wenn es nur eine Kleinigkeit zu sein scheint –, dass Sie Ihren Zielen ein Stück näherbringt. Denn die Arbeit mit Zielen ist motivierend, entwickelt eine gewisse Sogkraft und kann positive Emotionen wecken.
- Handeln Sie entschlossen!
Setzen Sie sich gegen widrige Situationen zur Wehr, so gut Sie können. Stecken Sie nicht den Kopf in den Sand, in der Hoffnung, dass Ihre Schwierigkeiten möglichst bald vorübergehen. Ergreifen Sie die Initiative und versuchen Sie, Ihre Probleme anzugehen und zu bewältigen. Sie werden schon bald merken, dass Sie der Situation nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern dass es einige Handlungsbereiche gibt, die Sie aktiv kontrollieren können.
- Finden Sie zu sich selbst!
Halten Sie nach Möglichkeiten Ausschau nach Situationen, in denen Sie etwas über sich lernen können. Vielleicht entdecken Sie ja, dass Sie der schwierigen Situation gewachsen sind. Viele Menschen, die schlechte Zeiten hinter sich gebracht haben, berichten danach von intensiveren Beziehungen und einem größeren Gefühl von Stärke. Auch wenn Sie sich verletzbar fühlen, haben Sie oft mehr Selbstwertgefühl und eine größere Wertschätzung des Lebens erlangt.
- Entwickeln Sie eine positive Sicht auf sich selbst!
Vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen und auf Ihre Instinkte. Denken Sie an Erfolge, die Sie aus eigener Kraft erreicht haben – das haben Sie sich selbst zu verdanken. Schreiben Sie sich so oft wie möglich auf, was Sie besonders gut können. Psycholog*innen nennen dies auch positive Selbstbekräftigung. Diese positive Selbstbekräftigung können einen großen Einfluss auf Ihre Realität haben. Gehirnforscher*innen konnten zeigen, dass dieses Tool bei richtiger und frequenter Nutzung sehr wirksam ist, um positive Veränderungen und Selbstwertgefühl schrittweise von innen heraus voranzutreiben (Cascio, O’Donnell, Tinney, Lieberman, Taylor, Strecher & Falk (2016)[3].
- Behalten Sie die Zukunft im Auge!
Versuchen Sie, auch in schwierigen Situationen eine Langzeitperspektive zu bewahren und die Lage in einem größeren Kontext zu betrachten. Versuchen Sie die Krise nicht größer zu machen, als sie tatsächlich ist – denn eins ist sicher: Sie wird enden.
- Erwarten Sie das Beste!
Versuchen Sie, eine optimistische Einstellung zu gewinnen. Sie befähigt zu einer positiven Erwartungshaltung, d.h. der Erwartung, dass Ihnen in Ihrem Leben positive Dinge widerfahren werden. Versuchen Sie sich vorzustellen, was Sie möchten, anstatt darüber nachzudenken, wovor Sie Angst haben. Der Glaube daran, dass „alles gut wird“ erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die Krise erfolgreich bewältigen.
- Sorgen Sie für sich selbst!
Horchen Sie in sich hinein. Welche Gefühle und Bedürfnisse haben Sie? Machen Sie Dinge, an denen Sie Spaß haben und die Sie entspannend finden. Verschaffen Sie sich regelmäßig Bewegung. Wer sich um sich selbst kümmert, stärkt Körper und Geist, um auch mit schwierigen Situationen zurecht zu kommen.
[1] https://www.apa.org/topics/resilience
[2] Otake, K., Shimai, S., Tanaka-Matsumi, J., Otsui, K., & Fredrickson, B. L. (2006). Happy people become happier through kindness: A counting kindnesses intervention. Journal of happiness studies, 7(3), 361-375.
[3] Cascio, C. N., O’Donnell, M. B., Tinney, F. J., Lieberman, M. D., Taylor, S. E., Strecher, V. J., & Falk, E. B. (2016). Self-affirmation activates brain systems associated with self-related processing and reward and is reinforced by future orientation. Social cognitive and affective neuroscience, 11(4), 621-629.
Bildquellen:
https://www.pexels.com/photo/photo-of-woman-holding-her-head-4064177/
https://www.pexels.com/photo/woman-in-red-blazer-wearing-blue-framed-sun...